aschaffenburger straße 93

seit den 80er jahren hatte das kleine ochsenblutrote fachwerkhaus in der aschaffenburger straße 93 keine bewohner mehr. die fassade bröckelte, drohte zeitweise auf die straße zu kippen. durch eine notreparatur konnte das verhindert werden.

im september 2018 öffneten sich die dunkelgrünen fensterläden des hauses erstmals wieder und nun häufiger, wenn katja und harald teubner, die neuen eigentümer, in freien stunden auf der baustelle zu gange sind.

beide sind schon fachwerk erprobt, renovierten in den 2000er jahren ihr jetziges wohnhaus gegenüber der basilika in der großen maingasse.

„aber auch in diesem kleineren haus mit nur hundert quadratmetern wohnfläche auf keller, erdgeschoss, obergeschoss und dachboden verteilt, kann man sich schön dreckig machen.“, begrüßen mich die beiden.

die ersten arbeitsschritte in diesem fachwerkhaus unterscheiden sich von einer üblichen haussanierung nicht: tapeten entfernen, gipsputz abklopfen, abgehängte rabitzdecken entfernen. doch darunter kommt dann die besondere bauweise zum vorschein: große eichenbalken halten wie ein skelett die statik des hauses. dazwischen sind weidenruten wie bei einem handgeflochtenen korb gewunden. dieses gitter wird mit einem stroh-lehm-gemisch beworfen, bis eine dichte wand entsteht. gerade außengefache sind oft auch mit lehmziegeln ausgemauert. dies geht auf eine feuervorschrift im barockzeitalter zurück, um brandgefahren zu minimieren.

für teubners ist diese alte bauweise nichts ungewöhnliches: auch im verein „lebenswerte seligenstädter altstadt“ stehen sie regelmäßig mit fachwerkbaustellen in kontakt. so wissen sie auch die kleinen anzeichen für besonderheiten des hauses zu finden.

„das haus mit dahinterliegender scheune war sicher mal ein sogenanntes ackerbürgerhaus.“, erklärt harald teubner. „kein richtiger bauernhof, dazu fehlen die wirtschaftsräume. aber hier lebten einmal menschen, die für die eigenversorgung landwirtschaft betrieben.“

hohe geschosse und ein repräsentatives fachwerk zur straße hin, aber ein kleines haus – wie passt das zusammen? „die bauherren waren leute die repräsentieren wollten, aber nicht wirklich konnten. die lage an der haupt- und geleitsstraße ist nicht 1a, aber 1b. zudem handelt es sich um handwerklich qualitätsvolles fachwerk. doch für einen großen bau hat das geld wohl nicht gereicht.“

auch zur bauzeit hat er eine einschätzung: „auf alle fälle nach dem 30jährigen krieg und nachdem das bodenniveau der aschaffenburger straße erhöht wurde.“ am nachbarhaus (ehemals café salzgrotte) und dem gegenüberliegenden brunnen an der klostermauer könne man noch abschätzen, dass das straßenlevel vorher circa einen meter tiefer gewesen ist.
„das hochwasser des breitenbachs hat immer die straße überschwemmt. so kam es aus der heutigen zeit betrachtet zu skurrilen szenen, dass fischernachen auf der aschaffenburger straße unterwegs waren.“

venedig flair in seligenstadt, foto: stadtarchiv seligenstadt

es gibt aber auch anzeichen dafür, dass ein teil des hauses noch älter ist: der keller ist wesentlich kleiner als der erdgeschoss grundriss. „das schließt auf einen vorgängerbau, vielleicht aus der gotik.“, schlussfolgert harald teubner.

auf alle fälle stand das haus schon, bevor schornsteine in bürgerlichen häusern mode wurden. „eine herdwand aus geschichteten bruchsteinen im erdgeschoss, davor eine esse (eine offene feuerstelle), der aufziehende rauch hat gleichzeitig im obergeschoss geheizt und auf dem dachboden den räucherofen betrieben. der schornstein wurde nach circa hundert jahren nachträglich eingebaut.“

und so machte das fachwerkhäuschen die bewegte geschichte seligenstadts durch.
beim großen brand von 1905/6 in der kellereigasse (auch fünf-häuser-gasse genannt) brannte die zum grundstück gehörende scheune vollständig ab. 1908 folgte ein scheunenneubau nach standard-bauplan: eine einfahrt für den heuwagen; die heu-/korngaben wurden auf der tenne, dem scheunenboden, gedroschen und in versetzten stockwerken gelagert; dazu ein stall mit futtertrog, wahrscheinlich für den zugochsen.


dabei wurde allerdings – aus welchen gründen auch immer – das tor auf die falsche seite gebaut, sodass eine hausabschrägung an der rückseite nötig war, um mit dem wagen um die ecke zu kommen. in dem zuge wurde die komplette rückwand erneuert, allerdings nicht in fachwerkbauweise.
„da diese nicht denkmalgeschützt ist und für die statik des hauses sowieso neu aufgestellt werden muss, kann dort auch eine große verglasung untergebracht werden, um die innenräume mit licht zu versorgen.“, freut sich katja teubner. in holzständerbauweise, der modernen abwandlung des fachwerks, ist sie mittlerweile wiederaufgebaut, zwischen die balken kommt eine holzfaserdämmung.

sie hatte als architektin gleich beim ersten begehen schon ideen im kopf, wie sie das kleine häuschen innen in ein schönes wohnobjekt für z.b. eine dreiköpfige familie verwandeln kann. die räume sind eng bemessen, durch das öffnen der lehmgefache in den zwischenwänden entsteht ein größerer raum. durch die balkenkonstruktion ist er trotzdem in verschiedene bereiche gegliedert.

die sanierung erfolgt in laufender abstimmung mit dem denkmalschutz, das bedeutet auch eine konsequente holz-lehmbauweise. „dieser kompromiss mit dem denkmalschutzamt fällt uns leicht, denn lehm ergibt ein super wohnklima, die luftfeuchtigkeit und die schadstoffe werden reguliert.“, führt katja teubner aus. „dafür können später aber kein nagel und keine schraube in die wand gebracht werden.“

um den modernen energetischen ansprüchen gerecht zu werden, ist an manchen hausseiten eine wandaufdopplung nötig. zur straße hin muss das sichtfachwerk erhalten bleiben, die dämmung kommt nach innen. wenn das haus an einer seite angebaut ist, dann ist es möglich, die seitenwand ungedämmt zu lassen. zum ehemaligen café salzgrotte hin gibt es eine außendämmung. die wand war als wetterseite einst verschiefert, nun denkt man über eine neue verschieferung oder verbretterung nach. so kann auch in den innenräumen fachwerkoptik erhalten bleiben.

immer wieder bekommen sie auch besuch von bekannten. am tag des offenen denkmals gab es sogar eine besichtigung veranstaltet vom verein „lebenswerte seligenstädter altstadt“. „viele schauen aber einfach mal beim arbeiten durch die offenen fensterläden.“, erzählen die beiden, die dann für einige minuten die schippe oder den putzbeil zur seite legen und den neugierigen einige fragen beantworten.

ursprünglich dachte das paar, der ausbau sei nach einem jahr fertig. es sei jedoch schwer, handwerker zu finden – die neue schätzung: ende des jahres wird die baustelle fertig sein. „wir haben aber keine eile. das ist nur unser hobby.“, meinen die beiden fachwerkliebhaber gelassen.

harald (im fenster gespiegelt) und katja teubner beim freilegen von putzschichten

märz 2020